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Glückloses Stück

Bei unserer Aufarbeitung von Goethes privaten Büchern und seiner Ausleihen aus der herzoglichen Bibliothek im Rahmen des MWW-Teilprojekts „Goethes Bibliotheken in Weimar“ stoßen wir immer wieder auf kleine, erzählenswerte Begebenheiten, die in der großen Literaturgeschichte keinen Widerhall gefunden haben. Hier ist der Ort, an dem wir über seltene Handschriften, unterschätzte Autoren und wenig bekannte Geschichten aus Goethes Umfeld berichten. Teil II der Blog-Reihe „Weimarer Fundstücke“.
 

Der hessische Komponist Peter Müller ist heute weitgehend vergessen. In Mozarts Todesjahr 1791 geboren, schrieb er während seines Theologie- und Pädagogikstudiums in Heidelberg seine ersten Lieder. Nach seinem Abschluss in Gießen machte Müller zunächst in der Heimat Karriere. Ab 1817 war er zwanzig Jahre lang Lehrer und Kirchenmusiker am pädagogischen Seminar des Großherzogtums Hessen-Darmstadt in Friedberg, bevor er 1839 auf die Pfarrstelle im nahen Dorf Staden wechselte. Neben der geistlichen Arbeit betrieb er auch die Musik weiter und komponierte Volks- und Kirchenlieder, die sich noch heute im hessischen evangelischen Gesangbuch finden. Daneben reizten ihn aber auch größere Formen und weltliche Sujets. Noch während seiner Friedberger Zeit komponierte er die Oper „Claudine von Villa Bella“ nach einem Libretto von Goethe.

Goethes Text ist heute fast so unbekannt wie der Komponist. Eine Gelegenheitsarbeit, noch vor dem Wechsel von Frankfurt nach Weimar geschrieben. 1776 erschien das Libretto als kleines Buch im Berliner Verlag Mylius – und stieß auf wenig Resonanz. Unzufrieden mit dieser Fassung, überarbeitete Goethe den Text während seiner Italienreise noch einmal. Johann Friedrich Reichardt vertonte das Stück; Beethoven, Brahms und noch Hugo Wolf taten dasselbe mit einzelnen Liedern. Der 18-jährige Franz Schubert komponierte sogar eine komplette „Claudine von Villa Bella“. Leider ist sie verloren gegangen.

Rettung vor Abenteurern und Vagabunden

Das Libretto erzählt eine einfache kleine Geschichte. Claudine, die Tochter des sizilianischen Adligen Alonzo, will ihren Verehrer Don Pedro heiraten. Ihre Cousine Lucinde begegnet im Wald dem streunenden Abenteurer Rugantino, der sich spontan in sie verliebt und sie gemeinsam mit seinen Freunden, den Vagabunden, entführen will. Nach einigen Wirren, die in einer kurzen Geiselnahme der Mädchen durch Rugantino gipfeln, gibt dieser sich Pedro als sein verlorener Bruder Carlos zu erkennen. Auf der Suche nach der heimlich in Männerkleidern geflohenen Lucinde wird Claudine beinahe vom intriganten Basco entführt, dem neuen Anführer der Räuber. Pedro und Carlos können sie und die hinzugekommene Lucinde jedoch vor ihm retten. Alonzo führt sie heim auf sein Schloss.

Claudine ist zwar die Titelheldin des Stückes, sein heimlicher Held aber ist der Draufgänger Rugantino. In der ersten Fassung, die in Spanien spielt, ist er noch extremer gezeichnet: als Stürmer und Dränger Crugantino landet er dort noch im Kerker und lehnt zunächst sogar seine Begnadigung ab, denn „eure bürgerliche Gesellschaft ist mir unerträglich“; erst in letzter Minute söhnen sich dort die Brüder aus. Diese erste Version fand zwar keine große Resonanz, aber sie etablierte das Räubermilieu auf der Bühne der 1770er Jahre, mit dem Schiller dann seinen ersten Triumph feierte.

Blankverse statt Prosa

Als Goethe das Libretto 1787/88 in Rom umarbeitete, setzte er nicht nur die Rede seiner Figuren in Verse, er nahm den Figuren und besonders Rugantino die Schärfe. Die Dialoge, ursprünglich in Prosa gehalten, waren nun in Blankverse gefasst. Mit der stärkeren Stilisierung wollte er sich wohl der italienischen Opera buffa annähern. Es ist diese Fassung, die auf die Komponisten des 19. Jahrhunderts eine so große Anziehungskraft ausübte – was sicher eher mit der Statur Goethes als mit dem Text zu tun hatte, der letztlich doch eine Nebenarbeit blieb.

Seine fertige „Claudine“ sandte Peter Müller im Juli 1825 nach Weimar – nicht an Goethe, sondern an Großherzog Carl August. Leider stieß Müllers Einsendung auf wenig Interesse. Der Fürst antwortete nicht, auch nicht auf die Nachfrage des Komponisten, ob er lieber ein anderes Stück einsenden solle. Auf die Idee, Goethe selbst zu kontaktieren, kam Müller offenbar nicht. Die Partitur wanderte in den Bestand der großherzoglichen Bibliothek, wo sie erst einmal liegenblieb. Erst zwei Jahre nach seiner ersten Einsendung, am 29. Juli 1827, bat Müller darum, ihm die Komposition zurückzuschicken. Diesmal gab es eine schnelle Reaktion – vom Verfasser des Librettos. Goethe lieh die Partitur am 7. August aus der Bibliothek aus und sandte sie zurück an Müller. Nicht einmal ein Brief dazu ist bekannt. Ein Publikum fand Müllers „Claudine von Villa Bella“ bis heute nicht.

Aus dem Räubermilieu nach Pompeji

Erst viel später wurde eine Oper Müllers aufgeführt, sein Zweitwerk „Die letzten Tage von Pompeji“. Mit einem Libretto seines ältesten Sohnes Adolf vertonte der Theologe das damalige Modebuch „in drei Acten und einem Nachspiele“, wie es auf dem Titel heißt. Der monumentale Roman des britischen Erfolgsautors Edward Bulwer-Lytton, 1834 zuerst erschienen, verfolgt das Schicksal einer Gruppe von Stadtbewohnern kurz vor dem Ausbruch des Vesuv im Jahre 79. Einige der Helden sind Christen oder konvertieren zur neuen Religion, was zum Reiz des Stoffes beigetragen haben mag.

Bis heute existieren unzählige Adaptionen des Stoffes, darunter allein sechs Stummfilme, sowie eine Oper des italienischen Komponisten Errico Petrella. Peter Müller kam ihm mit seinen „Letzten Tagen von Pompeji“ allerdings um fünf Jahre zuvor –  sein Stück wurde zuerst an Weihnachten 1853 gespielt. Bei der Uraufführung, immerhin am Darmstädter Hoftheater, wurde Müller begeistert gefeiert. 1855 erschien beim Darmstädter Verlag Leske sogar eine Druckfassung des Librettos. Damit endet die Geschichte von Müllers Erfolg als Opernkomponist auch schon wieder, denn weitere Aufführungen gab es offenbar nicht.

„Claudine von Villa Bella“ blieb ein glückloses Stück in Müllers Oeuvre. Erst in seinem Nachlass fand man die Partitur wieder. Als Müller 1877 mit 86 Jahren starb, fragte die „Darmstädter Zeitung“ in ihrem Nachruf: „Werden nach dem Tode des bescheidenen Mannes seine kostbarsten Schätze, die beiden Opern, hervorgezogen und zur Aufführung gebracht werden?“ Dieser Wunsch hat sich nicht erfüllt.

  PD Dr. Stefan Höppner leitet von Weimar aus das MWW-Forschungsprojekt „Autorenbibliotheken“.

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