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Die Bibliothek des Schreibmeisters

Wer hat denn schon mal von Wolfenbüttel gehört? Diese Frage stellte sich mir, als ich über das Oxford German Network in Kooperation mit dem Forschungsverbund Marbach Weimar Wolfenbüttel (MWW) meine Zusage für eine achtwöchige Hospitanz an der Herzog August Bibliothek erhalten hatte. Alles, was ich bis dahin über diesen Ort wusste, war, dass dort ein hochprozentiger Kräuterlikör gebraut wird, den man auch in Großbritannien erwerben kann. Dass es dort viel Spannendes zu erleben und lernen gibt, ahnt man mit Blick auf die grüne Flasche nicht.

Klein Venedig und urdeutsche Fachwerkhäuser

Freitagabend ankommend, hatte ich ein ganzes Wochenende vor mir, um das niedersächsische Städtchen zu erkunden. Zunächst stand das wunderbare Schloss auf dem Programm, das von außen jedoch beeindruckender war als von  innen. Dafür gab es aber eine kleine Ausstellung über die Wiedervereinigung Deutschlands, die nachhaltig auf mich gewirkt hat. Was die Ausstellung im Kontrast zum jahrhundertealten Schloss deutlich machte, ist, dass das Zusammenwachsen von Ost und West erst so kurz hinter uns liegt und doch schon so natürlich erscheint – wird Europa auch mal so selbstverständlich vereinigt sein? Apropos Europa, es gibt in Wolfenbüttel auch ein „Klein Venedig“: ein Kanälchen, an dem sich die Häuser wie Trauerweiden gen Oker beugen. Doch das Schönste an Wolfenbüttel ist etwas sehr Deutsches: die Vielfalt der hübschen Fachwerkhäuser.

Nach den touristischen Highlights stand der Arbeitsalltag an. Während meiner Hospitanz unterstützte ich Dietrich Hakelberg, der im MWW-Projekt „Autorenbibliotheken: Materialität – Wissensordnung – Performanz“ zu Gelehrtenbibliotheken forschte. Er hatte ein kleines Projekt für mich vorbereitet, das mich während meiner Zeit in Wolfenbüttel und darüber hinaus beschäftigen sollte: die Untersuchung des Auktionskatalogs zum Verkauf der Bibliothek eines niederländischen Schreibmeisters namens Johannes Heuvelman, der im 17. Jahrhundert gelebt hatte ‒ ein gedruckter Katalog, der nur noch in den Wolfenbütteler Beständen erhalten geblieben ist.

 

Entdeckungsreisen in der Bibliothek

Meindert E. Peters bei seinem Vortrag über die Bibliothek des Schreibmeisters Johannes Heuvelman...
 

Obwohl mein Forschungsinteresse und auch meine Studienschwerpunkte in der Moderne angesiedelt sind, war ich sofort in das Erscheinungsbild von Heuvelmans Schrift verliebt und fasziniert von den Fragen, die sich schon beim ersten Betrachten des Katalogs stellten:  Was sagt eine Bibliothek über ihren Besitzer aus? Was lässt sich über das Schreibmeisterdasein herausfinden, wenn man die Bücher aus Heuvelmans Besitz untersucht? Warum hat ein Schreibmeister – normalerweise kein Beruf für einen Gelehrten – überhaupt so viele Bücher? Mit diesen Fragen im Hinterkopf durfte ich die Wolfenbütteler Bibliothek entdecken. Meine Ergebnisse präsentierte ich nicht nur in  einem Vortrag über die Bibliotheca Heuvelmaniana ‒ eine sehr spannende und lehrreiche Veranstaltung mit vielen anregenden Fragen. Sie werden demnächst auch in einer wissenschaftlichen Zeitschrift veröffentlicht.
 

... zu dem sein Supervisor Dietrich Hakelberg (links) eine kleine Einführung gab. Fotos: Sarah Melzian


Doch auch über mein Projekt hinaus bekam ich spannende Einblicke in die Bibliothek und die mit der Augusta zusammenhängenden Projekte meiner Kollegen – vom tollen Gesamtkunstwerk, dass die Augusteerhalle darstellt, bis hin zu den winzigen Miniaturen von Karren schiebenden Schweinen  und Teufelsfratzen in einem spätmittelalterlichen Gebetbuch, das im Rahmen des MWW-Teilprojektes „Mediengeschichte der Psalmen“ untersucht wird.

In den Tiefen des Kornspeichers

Zusammen mit meinem Supervisor  durfte ich zudem zur Provenienzforschung in die Tiefen des sogenannten Kornspeichers eintauchen, in dem ebenfalls Bestände der HAB untergebracht sind. In den Büchern haben wir nach Exlibris gesucht, in der Hoffnung,  dass einige Bücher einer bestimmten Person gehört hatten. Leider war unsere Suche bis auf einen Eintrag ergebnislos. Aber kein  Ergebnis ist auch ein Ergebnis; jetzt wissen wir wenigstens, dass dort nicht mehr gesucht werden muss.

Neben der intensiven Forschungsarbeit bot das kleine Wolfenbüttel auch Zeit und Raum für viele nette und interessante Begegnungen. Besonders geeignet dafür ist die tägliche Kaffeerunde, in der sich Stipendiaten und Gäste der HAB austauschen können. Großes Glück hatte ich auch mit meinen zwei wunderbaren Bürokolleginnen,  die als fröhliches Duo immer gute Laune verbreitet haben ‒ es sei denn, ich hatte mal wieder versäumt, neuen Kaffee aufzusetzen. Zusammen erkundeten wir nicht nur das kulturelle Angebot Wolfenbüttels, sondern beim Betriebsausflug in das Forschungs- und Erlebniszentrum Paläon nach Schöningen auch die europäische Frühgeschichte (einen Kurs im Speerwerfen inklusive) sowie den Dom in Königslutter.

Ein Gefühl von Wärme

Mein achtwöchiger Aufenthalt verging so wie im Fluge. Verabschiedet haben mich meine Kolleginnen mit einer kleinen Flasche des besagten Wolfenbütteler Kräuterlikörs. Zurück in Oxford beschäftige ich mich noch immer mit Heuvelmans Buchbeständen ‒ Wolfenbüttel hat einen nachhaltigen Eindruck bei mir hinterlassen. Und wenn ich jetzt auf die grüne Flasche schaue, dann weiß ich nicht nur, wo Wolfenbüttel liegt, ich verspüre auch ein Gefühl von Wärme. Und das hat nichts mit dem Alkohol zu tun.

Meindert E. Peters studiert Germanistik an der Universität Oxford und schreibt seine Masterarbeit über einen Vergleich von Martin Heideggers Verständnis des Körpers mit Pina Bauschs Tanztheater. Vor seinem Bachelorstudium in Amsterdam absolvierte er eine klassische Ballettausbildung und arbeitete sechs Jahre als professioneller Balletttänzer in Deutschland. Wie am Thema seiner Masterarbeit zu erkennen, beschäftigt ihn das Thema Tanz noch immer. Nach Wolfenbüttel, wo er im Juli und August 2015 im Rahmen des Projekts Forschungshospitanzen zwei Monate verbrachte, führte ihn unter anderem seine Liebe zu Deutschland.

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