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Der Erfinder des Augenblicks

Eine Verteidigung des Sprachkritikers Philipp von Zesen

1678 erschien der Druckband Wohlgegründete Bedenkschrift über die Zesische Sonderbahre Ahrt Hochdeutsch zu Schreiben und zu Reden des Rostocker Rhetorik-Professors Andreas Daniel Habichthorst. Während meines Aufenthalts in Wolfenbüttel arbeitete ich im Rahmen des Forschungs- und Editionsprojekts „Die deutsche Akademie des 17. Jahrhunderts: Fruchtbringende Gesellschaft“ mit dem schmalen Buch. Der auf den ersten Blick unbedeutende Band bietet einen faszinierenden Einblick in die Detektivarbeit der Briefforschung, denn Habichthorst zitiert darin undatierte Briefen und Sendschreiben, deren originale Handschriften verlorengegangen sind. Damit können Lücken im schon vorhandenen Briefmaterial zwar nicht vollständig, aber so genau wie möglich gefüllt werden.

Im Zentrum der Bedenkschrift steht die beharrliche Verteidigung der sprachlichen Methoden Philipp von Zesens (1619-1689). Zesen gilt heute als Außenseiterfigur der deutschen Sprachgeschichte. Von seinen Versuchen, neue Wörter deutschen Ursprungs zu prägen und somit den Einfluss französischer und lateinischer Lehnwörter auf die deutsche Sprache des 17. Jahrhunderts einzudämmen, waren einige erfolgreich und haben sich bis heute durchgesetzt (z. B. ‚Augenblick‘ für ‚Moment‘), während seine missglückten Verdeutschungen (z. B. ‚Jungfernzwinger‘ für ‚Kloster‘) schon unter seinen Zeitgenossen für Spott sorgten. Außerdem wurde ihm der Beitritt zur Fruchtbringenden Gesellschaft, der ersten und größten deutschen Sprachakademie, jahrelang verwehrt. Wie radikal die Vorschläge Zesens auch klingen mögen, dahinter steht die ernsthafte Bestrebung, die deutsche Sprache und damit die aufkeimende deutsche Literatur durch die Nutzung der Schriftsprache aufzuwerten.

Wie geht man mit einem aus Briefen von verschiedenen Autoren zusammengestellten Text wissenschaftlich um? Die Hauptaufgabe lautet, die Briefe, Sendschreiben und Briefauszüge zu identifizieren und sorgfältig zu transkribieren, sodass sie in die Edition aufgenommen werden können. Dabei sind nicht nur der befremdlich wirkende Schreibstil des 17. Jahrhunderts und Druckfehler zu beachten, sondern auch die Schreibweise Zesens. Philipp von Zesen setzte sich unermüdlich für die Standardisierung der hochdeutschen Sprache ein – und zwar auf eine äußerst eigentümliche Weise, die sich in seinen Verbesserungsvorschlägen für die Rechtschreibung langer und kurzer Vokale niederschlägt (z.B. aus ‚Magd‘ wird ‚maagd‘, aus ‚schön‘ wird ‚schöhn‘).

Die Bedenkschrift ist nicht nur aufgrund ihrer Struktur von Interesse. Sie enthält auch Besonderheiten der zeitgenössischen Sprachdebatte. Das Sprachverständnis des 17. Jahrhunderts ist von der Bibelgeschichte der babylonischen Sprachwirrnis geprägt. So wird Deutsch neben Hebräisch und Griechisch als reine Sprache eingestuft, während romanische Sprachen als ‚Mischsprachen‘ abgewertet werden. Doch Zesen verfolgte keine proto-nationalistischen Ziele und war sich durchaus bewusst, dass sich verschiedene Sprachen im Laufe ihrer Entwicklung gegenseitig beeinflussen. Für mich als Engländerin sind die spekulativen etymologischen Bemerkungen Zesens eine interessante Lektüre: Beispielsweise geht Zesen auf die Herkunft des Begriffs ‚Schünder‘ [sic] ein. Die Ableitung lässt sich erst in Bezug auf das verwandte englische Wort ‚skin‘ erklären: Ursprünglich hatte ‚Schinder‘ die Bedeutung, ‚jemand, der etwas häutet‘, die im englischen ‚skin‘ noch beibehalten ist.

In den sprachlichen Beobachtungen Zesens lassen sich also zwei scheinbar gegensätzliche Tendenzen erkennen: einerseits die auf dem biblischen Sprachverständnis basierende Aufwertung der deutschen Literatursprache und andererseits das philologisch orientierte Interesse an zwischensprachlichen Verwandtschaften – schon etwa anderthalb Jahrhunderte vor der Entdeckung des Indogermanischen und dessen Sprachfamilien.

 

Philipp von Zesen: Palmbaum-Figurengedicht auf die Fruchtbringende Gesellschaft, Abbildung aus: Deutsches Helikons dritter teil, 4. Auflage 1656 (HAB: Um 211 [1])

 
Joanna Raisbeck promoviert an der Oxford University zum Thema „Religion und Philosophie im Werk Karoline von Günderrodes“. Im Vordergrund steht dabei die Fragestellung, welche poetischen Strategien aufgegriffen werden, um mit dem Verlust des Gottesglaubens umzugehen. Im Rahmen des Programms Forschungshospitanzen verbrachte sie zwei Monate an der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel.

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