ENDE

Berichte

"Endlich sehe ich mich als Wissenschaftlerin"

Wer über Hans Magnus Enzensberger forscht, kommt irgendwann nach Marbach. Xiaocui Qiu ist aus China angereist. Im Rahmen der Internationalen Sommerschule 2015 von MWW zum Thema „World Literature, Global Archives“ hat sie zwei Wochen im Deutschen Literaturarchiv verbracht und Enzensbergers Manuskripte in Händen gehalten. Hier erzählt sie vom Glück, in einer Schatzkammer der Literatur zu sein.  

Im Archiv vorm Fenster zu sitzen, die schöne Landschaft der Schillerstadt vor Augen zu haben und umgeben von Handschriften und Büchern die ruhige Atmosphäre zu genießen – mehr braucht eine Germanistin nicht. Das Deutsche Literaturarchiv Marbach ist so ein traumhafter Ort!

Dank der Internationalen Sommerschule des Forschungsverbunds Marbach Weimar Wolfenbüttel habe ich Gelegenheit, zwei Wochen im Deutschen Literaturarchiv Marbach zu verbringen. Auf der einer Seite habe ich im Rahmen der Sommerschule Seminare und Vorträge zum Thema „World Literature, Global Archives“ besucht. Der Austausch mit den anderen Stipendiaten aus verschiedenen Ländern und den Dozentinnen und Dozenten ist sehr aufschlussreich: Das eigene Verständnis von "Weltliteratur" wird durch Seminare und Vorträge aus verschiedenen Perspektiven und an verschiedenen Beispielen stark verunsichert. Diese Unsicherheit motiviert und inspiriert mich, weiter über mein eigenes Thema nachzudenken und zu arbeiten.

Unsicherheit als Inspiration

Auf der anderen Seite eröffnet mir das Archiv mit seinen umfangreichen Beständen und zahlreichen Verlagsarchiven eine Schatzkammer. Ich beschäftige mich mit Hans Magnus Enzensberger und seinen frühen Werken. Vor Kurzem ist sein Archiv ins Deutsche Literaturarchiv gekommen. Mit der Genehmigung von Herrn Enzensberger kann ich seine Manuskripte einsehen. Das ist für mich sehr faszinierend. Außerdem steht das Suhrkamp-Verlagsarchiv zur Verfügung. Das Verlagsarchiv ist für meine Arbeit über Hans Magnus Enzensberger, Suhrkamp-Autor und ehemaliger Lektor, ebenfalls eine wichtige Quelle.

Ich kann kaum beschreiben, wie bedeutsam dieser Aufenthalt im DLA Marbach für mich ist. Ich habe nicht nur Materialien für meine Arbeit gesammelt und neue Anregungen bekommen, sondern fange auch an, mich als Wissenschaftlerin zu begreifen und nicht nur als Fremdsprachlerin und Literaturliebhaberin. Mit der Unsicherheit verstärkt sich gleichzeitig mein Selbstbewusstsein als Wissenschaftlerin. Ich hoffe, dass ich bald wieder hierher kommen kann.

Xiaocui Qiu kommt aus China und arbeitet über „Hans Magnus Enzensberger und seine frühen Werke“.

Xiaocui Qiu vor dem Literaturmuseum der Moderne
Xiaocui Qiu vor dem Literaturmuseum der Moderne

"In Marbach atme ich Literatur"

Aus Ägypten ist Amira Fetian Ende Juli 2015 nach Schwaben gekommen, um an der zweiwöchigen Internationalen Sommerschule von MWW zum Thema „World Literature, Global Archives“ am Deutschen Literaturarchiv Marbach teilzunehmen. Ein Reisebericht.

Als ich die Ausschreibung für die Internationale Sommerschule in Marbach mit Fokus auf das Thema „Weltliteratur“ online gesehen habe, fand ich das sehr interessant und habe mich sofort beworben. „Weltliteratur“, also Literatur, die keine nationale oder regionale Grenze kennt, die aus der ganzen Welt stammt und überall gelesen wird. Goethes "Faust", Shakespeares "Hamlet", Becketts "Warten auf Godot", Dantes "Göttliche Komödie" haben die Grenzen der Sprache, der Zeit und des Raums überschritten. Sie haben das gemeinsame Humane dargestellt, und deshalb wurden und werden sie weltweit und bis heute gelesen, übersetzt und aufgeführt.

In meiner Doktorarbeit geht es auch um Grenzüberschreitungen, es geht um Reiseliteratur von Frauen. Ich beschäftige mich mit Frauen, die bereits im frühen 18. Jahrhundert die Grenze der Traditionen überschritten hatten. Sie reisten um die Welt und verfassten dabei Werke nicht nur über die Welt, sondern vor allem für die Welt. Und dabei zeige ich, wie früh diese Frauen emanzipiert waren – lange bevor es den Begriff der Emanzipation gab.

Schön umarmt

Ich fühle mich sehr wohl in Marbach. Hier ist Schiller geboren, und morgens laufe ich an seinem Denkmal vorbei und trotz der Eile, die ich habe, vergesse ich nicht, ihn zu begrüßen: "Guten Morgen, Herr Schiller!" Er steht da, ein schlanker hübscher Mann, in den sich viele Frauen verlieben würden. Jung gestorben – aber trotzdem ist es ihm gelungen, „Genie“ seiner Zeit zu sein. Wenn ich in der Mittagspause einen Spaziergang um sein Denkmal mache, fühle ich, dass wir beide schön umarmt werden vom Schiller-Nationalmuseum, dem Literaturmuseum der Moderne und dem Deutschen Literaturarchiv und dass der Geist der Literatur irgendwie in der Luft schwebt. Diese schöne Stimmung und der wunderbare Blick von der Schillerhöhe auf den Neckar ist ein Grund, warum viele hierher kommen. Ich bin auch sehr beeindruckt vom Archiv. Es enthält eine sehr reiche Sammlung an Kulturgut. Ob Aichingers Fotoalbum, Rilkes Briefe, Brechts Todesmaske oder Musils Büste – das Archiv ist voll mit Schätzen, die einzigartig sind.

Zusammen mit einer Gruppe von 20 Doktorandinnen und Doktoranden aus der ganzen Welt beschäftige ich mich intensiv mit Universalität und Literatur. Wir tauschen nicht nur unsere wissenschaftliche Kenntnisse aus, sondern auch unsere Kultur-, Sozial- und Lebenserfahrungen. Abends hören wir Vorträge von Professorinnen und Professoren aus verschiedenen Universitäten.

Regentropfen auf Schillers Gesicht

Die erste Woche der Sommerschule ist beinahe zu Ende. Ich komme aus dem Seminarraum und stelle fest, dass es schon dunkel ist. Schade, ich würde so gern einmal den Sonnenuntergang sehen und so viele Fotos wie möglich machen. Aber naja, morgen ist ein neuer Tag, und hoffentlich wird die Sonne auch wieder da sein. Meine Tasche ist schwer, voll mit Quellen, die ich in anderen Bibliotheken nicht finden konnte. Noch schwerer als meine Tasche ist mein Kopf, und langsam sind meine Schritte. Langsam wie die Regentropfen, die jetzt vom Himmel auf Schillers Gesicht fallen. Ich steige die Treppe zu ihm hinauf, um ihm näher zu kommen, stehe für einen Moment still und gucke ihn an: "Gute Nacht, Herr Schiller!"

Amira Fetian lebt in Kairo. In ihrer Dissertation beschäftigt sie sich mit „Frauenreiseliteratur als Emanzipations- und Grenzüberschreitungsversuch“.