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MWW goes Washington

Anfang Oktober in Washington: Während sich in Deutschland bereits die Blätter färbten, herrschten in der Hauptstadt der USA noch spätsommerliche Temperaturen. Dennoch war es bei unserer Ankunft regnerisch und windig. Eine Zeitlang sah es gar so aus, als ob Hurrikan Joaquin über die Stadt hinwegziehen würde; glücklicherweise bog er rechtzeitig auf die offene See ab. Gemeinsam mit Sonja Asal, der Geschäftsführerin von MWW, Ursula Kundert, Leiterin des MWW-Forschungsprojekts „Text und Rahmen“, und Ellen Strittmatter, Leiterin des MWW-Forschungsprojekts „Bildpolitik“, war ich nach Washington gekommen, um an der diesjährigen Jahrestagung der German Studies Association (GSA) teilzunehmen. 

Die GSA ist die größte germanistische Tagung Nordamerikas; in wechselnden Städten kommen jedes Jahr um den 1. Oktober herum mehr als tausend Literaturwissenschaftler, Historiker, Philosophen, Politologen, Soziologen, Kunsthistoriker und Musikwissenschaftler zusammen, um sich über ihre neuesten Forschungserkenntnisse zur deutschen Kultur und Geschichte auszutauschen. In diesem Jahr also, vom 1. bis zum 4. Oktober, war Washington an der Reihe – mit Blick auf den 25. Jahrestag der Deutschen Einheit am 3. Oktober war die Wahl der US-Hauptstadt als Tagungsort sicher kein Zufall. Und nicht umsonst gehörte Peter Wittig, der Botschafter Deutschlands in den Vereinigten Staaten, zu den Festrednern auf der GSA.

Eine Lanze für die Forschung im Archiv

Nachdem wenige Wochen zuvor Carsten Rohde (Weimar) und Ulrike Gleixner (Wolfenbüttel) den Forschungsverbund beim Kongress der Internationalen Vereinigung der Germanistik (IVG) in Shanghai vertreten hatten, nutzte MWW bei der GSA erstmals die Chance, sich mit einer eigenen Sektion mit dem Titel „Forschen in Sammlungen: Memoria, Methodik und Medialität“ zu präsentieren. Das Thema strich eine der Stärken des Verbunds heraus, nämlich die bestandsbezogene Forschung.

Sonja Asal eröffnete das Panel mit einer Anekdote über Theodor Mommsen, der wertvolle Handschriften zu Hause bearbeitete – bis es aus Unachtsamkeit zu einer Katastrophe kam: Eines der Manuskripte fing Feuer und ging in Flammen auf – der Albtraum eines jeden Bibliothekars und Archivars. Nicht nur deshalb brach Asal im Folgenden eine Lanze für die Forschung im Archiv, das Kernanliegen des Verbunds. Zugleich kritisierte sie die inflationäre metaphorische Verwendung des Archivbegriffs, wie er in der Nachfolge Michel Foucaults in den Kulturwissenschaften Einzug gehalten hat. Bei ihm bezeichnet der Begriff nämlich keinen konkreten Bestand von Dokumenten oder Objekten, sondern die Menge der Regeln, die in einer gegebenen Epoche und in einem bestimmten Kontext vorgeben, welche als wahr geltenden Aussagen formuliert werden können.

Von Psalmen und Fotografien

Im Anschluss stellten Ursula Kundert (Wolfenbüttel) und Ellen Strittmatter (Marbach) erste Ergebnisse aus ihren Forschungsprojekten vor. Kundert, die sich gemeinsam mit zwei weiteren MWW-Mitarbeitern in Weimar und Marbach mit dem Wechselspiel der Präsentation von Texten und ihrer Kanonisierung beschäftigt, sprach über die spezifischen Arten von Handschriften, in denen Psalmen im Norddeutschland des 15. Jahrhunderts festgehalten wurden. Und Strittmatter, die vom Deutschen Literaturarchiv Marbach (DLA) aus ein vierköpfiges Team von Wissenschaftlern zum Forschungsprojekt „Bildpolitik“ führt, berichtete in ihrem Vortrag über die Rolle, die die Fotografie bei W.G. Sebald und Alfred Döblin spielt. Die Nachlässe beider Autoren werden im DLA aufbewahrt.

Moderiert wurde das Panel von Meike Werner von der renommierten Vanderbilt University in Nashville, Tennessee; Werner ist auch externes Mitglied des MWW-Forschungsprojektes „Autorenbibliotheken“. Bei den meisten Sektionen der GSA ist es üblich, einen weiteren Wissenschaftler hinzuzuziehen, der als „Commentator“ eigene Anmerkungen zu den Vorträgen und damit Impulse für die nachfolgende Diskussion liefert. In diesem Fall konnten die Organisatoren Frank Trommler von der University of Pennsylvania gewinnen, einen Doyen der nordamerikanischen Germanistik, der selbst immer wieder in deutschen Beständen geforscht hat, vor allem im Deutschen Literaturarchiv in Marbach.

Aber auch über das Panel hinaus war MWW auf der Tagung der GSA sehr aktiv: Sonja Asal moderierte eine Sektion zum Thema „The Politics of Collecting: Kitsch, Cabinets, and Catalogues“, auf der wiederum Michael Knoche, Direktor der Herzogin Anna Amalia Bibliothek in Weimar, über „Die Zukunft des Sammelns an wissenschaftlichen Bibliotheken“ sprach. Im Vorfeld der Tagung fand das Jahrestreffen der nordamerikanischen DAAD-Professoren statt – ein mir wohlbekanntes Gremium, da ich bis vor wenigen Monate selbst eine DAAD-Professur an der University of Calgary in Kanada innehatte.

Beim diesjährigen Jahrestreffen hielt ich nun in meiner neuen Funktion als Leiter des MWW-Forschungsprojektes „Autorenbibliotheken“ einen Vortrag über den Verbund und warb für eine Zusammenarbeit mit dessen Projekten. Zudem veranstaltete ich gemeinsam mit Gerrit K. Roessler vom DAAD New York ein eigenes Panel zur Fantastik seit 1989 und nahm an einer Diskussion mit der österreichischen Autorin Kathrin Röggla teil, die zu den bekanntesten Theater- und Prosaautorinnen der Gegenwart zählt. Ebenfalls auf dem Podium saßen Tanja Nusser (Cincinnati/Ohio), Peter Rehberg (Austin/Texas) und Andreas Stuhlmann (Edmonton/ Alberta, Kanada).

Downtown Washington

Natürlich nahmen sich die meisten Teilnehmerinnen und Teilnehmer trotz des regnerischen und windigen Wetters Zeit für einen Abstecher zu den Sehenswürdigkeiten Washingtons. Vor allem das Weiße Haus und die Museen zogen viele Besucher an, aber auch die National Mall, der gigantische Grünstreifen zwischen Kapitol und Lincoln Memorial, dem tempelartigen Denkmal für Amerikas Bürgerkriegspräsidenten, erfreute sich großer Beliebtheit.

Die Stadt Washington wurde um 1800 am Reißbrett entworfen, weil die gerade unabhängig gewordenen Staaten sich nicht einigen konnten, ob das Machtzentrum im puritanisch geprägten Norden mit seinen kleinen Farmen und einer in den Anfängen steckenden Industrie oder im damals reicheren Süden mit seiner Plantagen- und Sklavenhalterwirtschaft liegen sollte. Man einigte sich auf ein Gebiet von zehn mal zehn Meilen an der Grenze zwischen Virginia und Maryland; Präsident George Washington, der selbst aus Virginia kam, hatte die Gegend ausgewählt. Damit befand man sich zwar im Süden der USA, aber nahe genug an den Zentren des Nordens. Die bereits existierenden Städte Georgetown, Maryland, und Alexandria, Virginia, wurden kurzerhand eingemeindet. Das neue Gebiet bekam den Namen District of Columbia (DC). Bis heute ist es kein eigenständiger Staat, sondern Bundesterritorium.

Gegenentwurf zu Versailles

Der französische Architekt Charles l’Enfant konzipierte seinen Straßenplan als Gegenentwurf zum französischen Versailles. Laufen dort alle Linien des Schlossgeländes auf einen Punkt zu, der den König als allerhöchsten Souverän symbolisiert, gibt es in Washington eine Vielzahl von „grand avenues“, die die zentralen Plätze der Stadt – und die dort liegenden Institutionen – miteinander verbinden. Die wohl berühmteste unter ihnen ist die Pennsylvania Avenue, die die Verbindung zwischen Weißem Haus und Kapitol bildet. Die klassizistische Architektur der öffentlichen Gebäude lehnt sich an die großzügig angelegten Plantagen des Südens, vor allem aber an das Römische Reich und die französische Revolutionsarchitektur an – offensichtliche Vorbilder zu einer Zeit, in der es kaum andere Republiken gab. Man betrat politisches Neuland und wollte das auch in der Architektur gespiegelt sehen.

Verpflichtung zur Neutralität

Bauwerke, die später hinzukamen, wie das 1884 eingeweihte Washington Monument, ein 170 Meter hoher Obelisk zu Ehren des ersten Präsidenten, oder das Lincoln Memorial passten sich der klassizistischen Bauweise an. Um die Neutralität der Hauptstadt zu wahren, durften ihre Einwohnerinnen und Einwohner bis 1964 nicht an Präsidentschaftswahlen teilnehmen, und bis 1973 war es ihnen nicht einmal erlaubt, ihren eigenen Bürgermeister zu bestimmen. Bis heute darf die Stadt zwar Vertreter in den Kongress entsenden, diese dürfen jedoch nicht mit abstimmen.

L’Enfants Plan war derart gigantisch, dass die Straßen der Stadt erst ein Jahrhundert nach ihrer Gründung vollständig bebaut waren. Heute leben in der Region fast sechs Millionen Menschen, ein Zehntel davon in der Stadt selbst. Beliebtes Fortbewegungsmittel neben dem Auto ist die U-Bahn; entsprechend gut ausgebaut ist das U-Bahn-System, das 1976 zum zweihundertsten Gründungsjubiläum der USA eröffnet wurde. Die Stationen mit ihren spärlich beleuchteten Betongewölben stehen allerdings im Kontrast zur Pracht der übrigen Stadt und versprühen den Charme einsatzbereiter Atombunker.

Grund genug, sich schnell wieder an die Erdoberfläche zu begeben, um die grandiose Architektur der Stadt und einige der besten Museen der Welt zu erleben. Nächstes Jahr wird die Tagung übrigens im kalifornischen San Diego stattfinden – hoffentlich wieder mit MWW-Beteiligung!

PD Dr. Stefan Höppner leitet von Weimar aus das MWW-Forschungsprojekt „Autorenbibliotheken".

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