ENDE

Blog

angle-left

Henry van de Velde und die Raumkunst in Weimar

Die Überraschung kam per Mail an einem Sommerabend im Juni 2021: Es war die Einladung zu einem Fellowship im Forschungsverbund MWW bei der Klassik Stiftung Weimar, das ich jetzt zwischen Mitte Februar und Mitte April 2022 wahrnehme. Die Freude war groß. Es gibt nämlich einige Anknüpfungspunkte zwischen meiner Dissertation Wohnen im Kaiserreich an der Goethe-Universität Frankfurt am Main und der von Dr. Christoph Schmälzle geleiteten Fallstudie ›Kunst und Memoria‹ und der Forschungsgruppe ›Raum. Sie untersucht Möbel und Hausrat von Elisabeth Förster-Nietzsche. 

Nietzsches Wohnzimmer im 1.OG, Foto: GSA, 101_622_Seite 5

Sie lebte in ihrer Wohnung im Obergeschoss des Nietzsche-Archivs mit historistischen Möbeln, ließ aber das Erdgeschoss mit modernen, schlichten Möbeln von Henry van de Velde ausstatten. 

Einblick in die von Henry van de Velde ausgestatteten Räumlichkeiten, Foto: GSA, 101_623_Seite 29

Dieses Gegensatzpaar antimodern/modern steht auch im Zentrum meiner Forschungen. Weimar bietet mit seinen Bibliotheken und Archiven dafür hervorragende Bedingungen. So gibt es zum Beispiel im Goethe und Schiller-Archiv (GSA) Unterlagen von Elisabeth Förster-Nietzsche und Dokumente des Großherzogs Wilhelm Ernst zur Förderung von Architektur und Kunstgewerbe. Mit Henry van de Velde holte der Großherzog einen bekannten Reformer in die Residenzstadt, um dem Kunsthandwerk neue Impulse zu geben. Unterstützt wurde van de Velde sehr stark von Elisabeth Förster-Nietzsche.

Henry van de Velde um 1910, Foto: Fotothek 100-2012-0404

Elisabeth Förster-Nietzsche, Foto: GSA 101/172

Sie erwartete, dass das von ihm geleitete Kunstgewerbliche Seminar in Weimar, später die Kunstgewerbeschule, Musterteile für die thüringischen Werkstätten und Fabriken herstellte, die wiederum von deren besten Mitarbeitern ausgeführt würden. Auf diesem Wege wollte sie die Qualität des Kunsthandwerks verbessern. So schrieb Elisabeth Förster-Nietzsche in einem Brief am 22. März 1901 an den Kunstsammler und Mäzen Harry Graf Kessler: »Was ich nämlich immer vermisse, ist, daß auch die allergeringsten Gebrauchsgegenstände nach guten, künstlerischen Prinzipien hergestellt werden, und zwar billige Gebrauchsgegenstände, die eben das Volk auch bezahlen kann und woran es selbst seine innige Freude haben würde«.

Harry Graf Kessler, Foto: Klassik Stiftung Weimar, GSA 101/488 Bl. 49

Mit dieser Einstellung stand Elisabeth Förster-Nietzsche an der Seite der modernen Kunstgewerbebewegung.

Der Zusammenhang von Kunstgewerbe, Handwerk und Industrie hat mich schon während des Studiums der Geschichte und Kunstgeschichte und der Promotion in Frankfurt am Main beschäftigt. Für mich kommt es darauf an, die Kunstgeschichte mit der Wirtschaftsgeschichte zu verbinden, den Stil der Möbel und der gesamten Einrichtung auch aus den Bedingungen der Produktion und der Entwicklung des Marktes zu erklären. Besonders die Jahre nach 1900 bis zum Ersten Weltkrieg sind aufschlussreich. In den Fabriken begann die maschinelle Serienfertigung von Möbeln, in den Kaufhäusern entstanden die ersten Wohnungsabteilungen mit kompletten Raumausstattungen wie heute bei IKEA und zur Geschmacksbildung der Verbraucher fanden in vielen Städten Ausstellungen mit Musterwohnungen statt. Wohnungszeitschriften wie die Innendekoration veranstalteten Wettbewerbe zur Inneneinrichtung. Hersteller sollten gut gestaltete und geschmackvolle Möbel entwerfen, die prämiert wurden und zu vorab festgelegten Preisen im Handel erhältlich sein sollten.

Einer der Wortführer des schlichten, sachlichen Stils war Henry van de Velde, einige Jahre später, 1907, einer der Mitbegründer des Deutschen Werkbundes. In Sachsen-Weimar sollte er nach dem Willen des Großherzogs Wilhelm Ernst beim Kunsthandwerk die gute Form durchsetzen, zu einem guten Preis und von guter Qualität. »In keinem Lande gab es etwas Ähnliches, und kein Souverän, keine Regierung hatte daran gedacht, das verfallene Kunsthandwerk unter seinen Schutz zu nehmen«, schrieb van de Velde in seinen Erinnerungen Geschichte meines Lebens. Welchen Einfluss er auf die Werkstätten und ihre Produkte nehmen konnte, zusammen mit seinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, inwieweit auch das Kunstgewerbliche Seminar von der Zusammenarbeit mit den Fabriken profitierte, untersuche ich während meines Forschungsaufenthaltes in Weimar. Dazu gehört auch die Frage, wo der bekannte Kunstreformer an Grenzen stieß und wo er Unterstützung bekam – durch Großherzog Wilhelm Ernst, den Sammler und Mäzen Harry Graf Kessler und durch Elisabeth Förster-Nietzsche. Gemeinsam schufen die Drei nach 1902 das »Neue Weimar«, das im ehemals Großherzoglichen Museum heute wieder lebendig wird.

Museum Neues Weimar, Foto: Klassik Stiftung Weimar: KPh/3629

 


Dr. Maren-Sophie Fünderich ist Historikerin und Kunsthistorikerin. Ihre Dissertation Wohnen im Kaiserreich. Einrichtungsstil und Möbeldesign im Kontext bürgerlicher Selbstrepräsentation wurde 2019 bei De Gruyter veröffentlicht. Im Februar bis April 2022 ist sie als Junior Fellow in der Forschungsgruppe ›Raum‹ im Forschungsverbund Marbach Weimar Wolfenbüttel und seit März 2022 auch Mitglied dieser Forschungsgruppe.

Weitere Blogeintrag

Die Sammlung(en) Zweig

»Ich beauftrage Sie mit dem kommissionsweisen Verkauf meiner Autographensammlung u[nd] zw[ar]...

Was ist der Wert der Dinge? Konzepte einer Sammlungsökonomie

von Qingyu Cai  Da ich mich im Rahmen meiner Promotion mit dem Sammelmotiv in der ...