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Die Hündin lechzt und der Hirsch röhrt

Wie Bilder das Verständnis von Psalmen beeinflussen

In der praktischen Übersetzungsarbeit ist die Brücke zwischen Vorlagentreue und zeitgemäßer Sprache nicht immer leicht zu schlagen. Vorlagentreue bedeutet gerade bei den poetischen Büchern der Bibel, wie den Psalmen, eben auch, die formale Gestaltung, das Lyrische, auszudrücken. Der Psalmvers 42,2 zieht einen Vergleich zwischen der Seele und einem Tier, auf Hebräisch: „כְּאַיָּ֗ל“ (kə-’ay-yāl). Das bedeutet wörtlich übersetzt ‚wie die Hirschkuh‘.  In der hebräischen Literatur ist ein Text dann umso poetischer, je genauer er etwas beschreibt. In der deutschen Literatur der Gegenwart ist es aber genau umgekehrt: Lyrik bleibt vage, lässt viel Raum für eigene Gedanken, während das Sachbuch des Jägers Tiere ganz genau beschreibt.

2007 erschien die jüngste vollständige Neuübersetzung der Zürcher Bibel. Sie will gemäß Geleitwort so nah wie möglich an den kanonischen Grundtexten sein, aber gleichzeitig die Sprache des 21. Jahrhunderts sprechen. Das bedeutet, dass sich die Übersetzung als Hilfsmittel zum Verständnis versteht und weniger selbst ein literarisches Kunstwerk mit eigenem kanonischem Anspruch sein möchte. Als Hilfsmittel ist sie immer abhängig von der kulturellen und sprachlichen Situation, in die sie hineinspricht. Schon die erste Zürcher Bibelübersetzung von 1531, die erste vollständige deutsche der Reformationszeit, hatte sich in diesem Sinne als vorläufiges Werk verstanden, weil eine Interpretation des Bibeltextes immer wieder neu gefunden werden müsse.

Luther folgte, als er für den Psalmvers 42,2 ‚wie der Hirsch‘ wählte, eher der lateinischen Übersetzung der Vulgata  (‚quemadmodum … cervus‘) oder einem damals vielleicht üblichen deutschen Sprachgebrauch, wie er das in seinem "Sendbrief vom Dolmetschen" propagiert. Sehr erfolgreich ist er im 21. Jahrhundert mit diesem Versuch der generischen Übersetzung nicht, denn zahlreiche Konzertplakate zu Mendelssohns Vertonung belegen, dass die Grafiker sich beim Lesen eher das Bild eines röhrenden männlichen Hirschs  vorstellten, wozu sicher die Verbreitung dieses Motivs durch die bildende Kunst des 19. Jahrhunderts beiträgt.

Die Zürcher Bibel von 2007 versuchte inhaltliche Genauigkeit mit poetischer Wirkung zu vereinen, indem sie nicht ‚Hirschkuh‘, das an das Schimpfwort „Kuh“ erinnert, sondern das sanftere Synonym ‚Hindin‘ wählte: ‚Wie die Hindin lechzt an versiegten Bächen, so lechzt meine Seele, Gott, nach dir‘. Kaum war die neue Übersetzung publiziert, erhielt die Übersetzungsredaktion einen Brief mit dem freundlichen Hinweis auf einen Druckfehler: In Psalm 42 müsse es ja wohl „Hündin“ heißen. Das Ziel, die Sprache des 21. Jahrhunderts zu treffen, hatte auch diese Übersetzung nicht erreicht.

Beide Beispiele belegen, dass Situationsdefinitionen, Erving Goffman nennt diese „Rahmen“,  festlegen, wie wir Äußerungen verstehen. Psalmenübersetzungen verraten deshalb sehr viel darüber, was die Übersetzenden als normal, naheliegend, angemessen oder selbstverständlich auffassten. Und gerade im Fall der Psalmen gilt das nicht nur für den Inhalt, sondern auch für die Form, also etwa für die Frage, ob Psalmen mit einem besonderen Wortschatz oder in Reimen zu dichten sind.

Das Projekt „Mediengeschichte der Psalmen“ untersucht, welche Rahmen das Psalmen-Verständnis der spätmittelalterlichen Übersetzer und Bearbeiter beeinflussten und wie sie mit ihren eigenen Formulierungen neue Rahmen für ihre Leser bauten.

Peter Schwagmeier von der Universität Zürich danke ich für den anregenden Austausch über diesen Psalmvers.

Ursula Kundert leitet das Projekt “Text und Rahmen. Präsentationsmodi kanonischer Werke”, und arbeitet in ihrem Teilprojekt zur Mediengeschichte der Psalmen.

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