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Die Exilbibliothek der Familie Lieblich

von Emanuel Neumann

Im Rahmen eines Junior-Fellowships der MWW-Forschungsgruppe »Provenienz« hatte ich im Dezember 2022 die Möglichkeit, im Deutschen Literaturarchiv Marbach (DLA) an der bislang unerschlossenen Exilbibliothek von Olga und Karl Lieblich zu arbeiten. Der Bestand »G:Lieblich, Karl« umfasst laut Marbacher Katalog die Autorenbibliothek des Stuttgarter Rechtsanwalts und Schriftstellers Karl Lieblich. Meine bisherigen Beschäftigungen zeigen jedoch, dass sich etwa 20–25% der Bücher eindeutig Olga Lieblich und etwa 35–40% der Bände Karl Lieblich zuordnen lassen. Es handelt sich also vielmehr um eine Paarbibliothek, die auch im Exil weiterhin und vor allem durch Olga Lieblich ergänzt wurde. Die Bibliothek befindet sich seit 2013 im Haus. Judith Patarra-Lieblich, die jüngste Tochter des Ehepaars Lieblich, hat die Büchersammlung 2013 dem DLA gespendet. Seit einem Jahr arbeite ich im Zuge meiner Masterarbeit in den Jüdischen Studien an der Universität Potsdam an dem Bestand. Mit diesem Blogbeitrag möchte ich einen ersten Einblick in die Vielfalt der in der Bibliothek vorgefundenen Spuren geben.

Der Erhaltungszustand der Bücher ist sehr schlecht – das Papier ist brüchig, Buchrücken und Einbände sind vom Buchblock abgelöst, einzelne Seiten fehlen – all das sind Spuren, die die lange Reise bezeugen, welche die Sammlung in den vergangenen 75 Jahren zurückgelegt hat. Besonders anschaulich lassen sich die einzelnen Stationen dieser Reise an der Provenienzgeschichte eines Exemplars von Selma Lagerlöfs Roman Nils Holgersens Reise mit den Wildgänsen nachvollziehen:

  • Lieblich 1936. Zum Vorlesen für die Kinder im Herbst. Auf die Reise von Mutti: 1.1.1937. Herbst 1936 in Stuttgart gekauft. Januar 1937 mit Papa nach New-York. Juli 1938 wieder in S. Paulo [São Paulo] angetroffen. 15. Januar 1940 in S. Paulo beendet. Herbst 1936 – Januar 1940.

Abbildung 1: Fliegendes Blatt in Lagerlöf, Selma: Niels Holgersens wunderbare Reise mit den Wildgänsen. Erster und zweiter Teil in einem Bande. Leipzig: Hesse & Becker Verlag, [1932]. 588 S.

 

1937 emigrierte Karl Lieblich über New York nach São Paulo. Seine Lebensgefährtin Olga Lieblich erreichte Brasilien nach langer Reise im Jahr 1938 gemeinsam mit drei ihrer vier Töchter. Die älteste Tochter Ursula Lieblich rettete sich in die Schweiz und folgte ihrer Familie erst 1945 nach gescheiterter Ehe ins südamerikanische Exil. Am 14. September 1938 lief die General Artigas im Hafen von Santos, Brasilien ein. An Bord befanden sich, verteilt auf zwei »Lifts« (Frachtcontainer), insgesamt 9365 kg Gepäck der Familie Lieblich, darunter auch die Bibliothek. Insgesamt 835 Titel sind heute erhalten. Darunter vor allem deutschsprachige Literatur der Wilhelminischen Zeit, Kriegsliteratur aus dem Ersten Weltkrieg, Literatur der Zwanziger Jahre, NS-Literatur der dreißiger und vierziger Jahre und Nachkriegsliteratur. In der Zusammensetzung der Bibliothek zeichnen sich zwei stark unterschiedliche Leseinteressen ab, die exemplarisch für zwei völlig gegensätzliche Entwicklungen im Exil stehen. Während Karl Lieblich durch die mitgebrachte europäisch-deutsche Literatur ein Stück seiner kulturellen Heimat nach Brasilien importierte und sich damit eine Verbindung zur Vergangenheit erhielt, las Olga Lieblich in Brasilien überwiegend zeitgenössische Literatur in englischer, französischer und portugiesischer Sprache. In meiner Masterarbeit untersuche ich die Bibliothek, beschreibe sie in ihrem Gesamtcharakter und hoffe, mit Hilfe der gefundenen Lese- und Nutzungsspuren den in der (Exil-)Forschung bislang unterrepräsentierten Biographien von Olga und Karl Lieblich einige neue Erkenntnisse hinzufügen zu können.

Aufwendige Konservierung

In der Restaurierungswerkstatt des DLA wurden die schlecht erhaltenen Bücher konserviert. Geschützt durch Folie, Bänder und Pappe oder abgelegt in säurefreien Mappen sind die Bücher nun benutzbar, gleichzeitig bleibt aber der desaströse Zustand einzelner Exemplare weiterhin sichtbar. Die vorgefundenen Griffspuren und der tief in das Material eingeprägte Schmutz bezeugen eine intensive Nutzung der Bücher im Hause Lieblich. Bemerkenswert sind vor allem die Sicherungsmaßnahmen, die die Familie noch in Brasilien selbst durchführte. Durch die mit Gewebeband geklebten Buchrücken und die handschriftlich aufgebrachten Beschriftungen blieben die Bücher trotz der schwierigen klimatischen Bedingungen im Exilland nutzbar und eine offene Ansicht der Titel im Regal erhalten. Diese Reparaturen zeigen, welchen hohen Wert die Sammlung für ihre Besitzer:innen gehabt haben muss. In den Büchern finden sich mannigfaltige Provenienzspuren von Besitzvermerken über Widmungen bis hin zu Annotationen und Einlagen aller Art. Die eingelegten Zeitungsartikel, Briefe, Fotografien und Rezensionen zeigen, dass die Bücher als eine Art thematischer Sammlungsort benutzt wurden.

Abbildung 2: Verschiedene Formen konservatorischer Bestandserhaltung

Bevor ich nun näher auf einige der gefundenen Spuren eingehe, möchte ich noch einmal zur eingangs bereits erwähnten Selma Lagerlöf zurückkehren. Olga und Karl Lieblich waren begeisterte Leser:innen und Sammler:innen der Werke der schwedischen Schriftstellerin. So finden sich in der Bibliothek weitere Titel der Autorin, darunter die Romane Jans Heimweh. Eine Geschichte aus dem Wärmland, Gösta Berling und Jerusalem, außerdem die Novellensammlung Die Königinnen von Kungahälla und die Erzählung Herrn Arnes Schatz. Interessant ist der Erzählband Christuslegenden, in den Olga Lieblich das Datum »August 1937« einschrieb und in der darin enthaltenen Erzählung Die sieben Todsünden einzelne Begriffe ins Portugiesische übersetzte. Es ist anzunehmen, dass sie einen ihr wohlbekannten Text benutzte, um erste Vokabeln für die geplante Auswanderung nach São Paulo zu erlernen. Ein anderer Titel enthält eine gedruckte Publikationsliste aller bereits erschienenen Veröffentlichungen Selma Lagerlöfs. Das Ehepaar Lieblich markierte hier alle Titel, die sie bereits für ihre Sammlung angeschafft hatten.

Judaica und Zionistica in der Bibliothek Lieblich

Ein großer Teil der in der Bibliothek enthaltenen Judaica und Zionistica lässt sich qua eingeschriebenem Besitzvermerk Olga Lieblich zurechnen. Sie beschäftigte sich intensiv mit der Schoah und las frühe englisch- und französischsprachige Berichte aus den Konzentrationslagern.

Aus der Bibliothek erfahren wir, dass Olga Lieblich 1953 in ihrer Funktion als Vizepräsidentin der Women's International Zionist Organization (WIZO) Brasilien an einem Treffen der Organisation in Israel teilgenommen hat. Das Programm dieser Reise findet sich, zusammen mit einigen Notizen, eingelegt in Ben-Chavivs Lehrbuch Lerne Hebräisch. Praktisches Lehrbuch zum Selbstunterricht, erschienen 1949 in Tel-Aviv. Sogar ein Treffen mit dem damaligen Präsidenten Jizchak Ben Zwi und dem damaligen Premierminister David Ben-Gurion war geplant. Auch wenn das Programm selbst in englischer Sprache durchgeführt wurde, zeigen die weiteren im Lehrbuch enthaltenen Lese- und Arbeitsspuren, dass Olga Lieblich versuchte, ihre Hebräisch-Kenntnisse im Rahmen der Reise aufzubessern.

Abbildung 3: Ben-Chaviv: Lerne Hebräisch. Praktisches Lehrbuch zum Selbstunterricht. Fünfte verbesserte Auflage. Tel-Aviv: Sinai, 1949. 110 Seiten. [Unvollständig]

Ein weiterer interessanter Fund ist das von Juliette Pary verfasste und 1938 erschienene Buch Mes 126 gosses (Meine 126 Kinder). Die in Odessa geborene Autorin, Journalistin und Übersetzerin engagierte sich in den 1930er-Jahren in einem Sommercamp für jüdische Kinder aus dem Pariser Einwanderer:innenviertel Belleville. Diese Erfahrungen verarbeitete sie in einem Artikel in der 1932 bis 1940 erschienenen Zeitschrift Marianne und später in einem eigenen Buch. In den folgenden Jahren organisierte sie Hilfe für jüdische Kinder und leistete zionistische Erziehungsarbeit, um Jugendliche für die Auswanderung nach Israel vorzubereiten.[1] Olga Lieblich, die vor ihrer Flucht ins brasilianische Exil selbst als Lehrerin gearbeitet hat und in ihrer Jugend Mitglied des zionistischen Wanderbundes »Blau-Weiß« war,  schrieb mit blauer Tinte ihren Namen in den vorliegenden Band. Nicht nur das Erscheinungsjahr, sondern auch ein im Buch aufgebrachter Aufkleber des Antiquariats Livraria Parthenon (Buchhandlung Parthenon) erlauben den Schluss, dass Olga Lieblich das französischsprachige Werk in Brasilien angeschafft haben muss.

Abbildung 4: Aufkleber der Buchhandlung Livraria Parthenon im Band Pary, Juliette: Mes 126 gosses. Paris: Flammarion, © 1938. 330 Seiten.

Wie sehr ihr die religiöse und insbesondere die zionistische Jugendbildungsarbeit am Herzen lag, zeigen auch die in der Bibliothek enthaltenen Bibelausgaben. So finden sich nicht nur Ausgaben, die Olga Lieblich selbst seit ihrer Kindheit besessen haben muss[2], sondern auch neuere Auflagen, die Besitzvermerke und Lesespuren ihrer Töchter enthalten. Die Anstreichungen sowie die eingelegten Lesezeichen lassen ebenfalls auf eine zionistisch geprägte Lesart schließen. Aus der Bibliothek erfahren wir außerdem, dass Olga Lieblich an einer portugiesischen Übersetzung des zweibändigen, 1964 von Abrascha Stutschinsky veröffentlichten Werkes Die Bibel für Kinder erzählt, gearbeitet hat. Während sie damit einen Beitrag zur religiösen (Kinder-)Erziehung in Brasilien zu leisten versuchte, war Karl Lieblich bereits nach Deutschland remigriert.

Ein anderes interessantes Exemplar ist der Roman Richter und Narr des Schriftstellers Altalena. Das Buch im orangefarbenen Leineneinband ist 1928 im Meyer & Jessen Verlag in München erschienen. Auf dem fliegenden Blatt des Vorsatzes befindet sich mit schwarzer Tinte eingetragen der Besitzvermerk »Olga Lieblich.« Im Text selbst finden sich außerdem noch verschiedene Anstreichungen mit Bleistift. Unter den Zionistica der Bibliothek sticht dieses Werk besonders heraus. Denn hinter dem pseudonymisierten Autorennamen »Altalena« verbirgt sich der russische Zionist und Schriftsteller Wladimir Zeev Jabotinsky. Der Begründer des nationalistischen und revisionistischen Zionismus begann die Arbeit an seinem Roman Samson Nazorej (Samson der Nasiräer) 1919 in Palästina. Erstmals veröffentlicht wurde die Geschichte in Paris in der russischsprachigen Zeitung Rassvet (Morgendämmerung), für die Jabotinsky von 1924 bis 1934 als Herausgeber tätig war. In Buchform erschien der ursprünglich als Fortsetzungsroman angelegte Text erstmalig 1927 im russischen Verlag Slovo (Wort) in Berlin. 1928 folgte schließlich die Veröffentlichung der hier vorliegenden, deutschsprachigen Ausgabe unter dem Titel Richter und Narr im Meyer & Jessen Verlag. Jabotinsky Heldenepos orientiert sich an der biblischen Simson-Geschichte aus dem Buch der Richter. In der Vorlage kämpft der von Gott ausgewählte und zum Richter eingesetzte Simson als Held des israelitischen Stammes Dan mit scheinbar unbezwingbarer Kraft gegen die Philister. Als seine Feinde ihn schließlich bezwingen, opfert er sich, um noch 3000 von ihnen mit in den Tod zu reißen. Diese Märtyrer-Erzählung wurde vielfach in Gemälden, musikalischen Werken und als Baukunst rezipiert. Auch als literarischer Stoff wurden die vier Kapitel des Richterbuches verschiedentlich interpretiert. Jabotinsky erweitert den biblischen Bericht, verzichtet allerdings auf die göttliche Auserwähltheit der Hauptfigur. Einige Textstellen lesen sich dabei wie eine Allegorie auf die Lage der assimilierten jüdischen Bevölkerung im Europa der 1920er-Jahre und waren sicher auch als eindeutig Botschaft an die jüdischen Leser:innen zu verstehen. Neben dieser Ausgabe findet sich im DLA Marbach noch eine weitere Ausgabe diese Buches, und zwar in der Sammlung des Schriftstellers und Literaturkritikers Kurt Pinthus. Auch in seinem Exemplar finden sich Annotationen und Anstreichungen, die sich sicher sehr gut den gefundenen Spuren in Olga Lieblichs Ausgabe gegenüberstellen ließen.

Die Exilbibliothek von Olga und Karl Lieblich enthält noch unzählige solch spannender Funde, die uns neue Erkenntnisse über die Leseinteressen ihrer Besitzer:innen und über die Zeit im brasilianischen Exil offenbaren. Durch die verschiedenen Aufkleber und Einlagen erfahren wir etwas über die Netzwerke und Kontakte im Exil, die Widmungen anderer Schriftsteller:innen geben Auskunft über Karl Lieblichs Verbindungen innerhalb der baden-württembergischen Literaturlandschaft und die Annotationen in den Büchern geben uns einen Einblick in die Gedankenwelt der Leser:innen. Einige der vorgefundenen Spuren werfen dabei mehr Fragen auf, als mit ihrer Hilfe beantwortet werden können. Andere führen ins Nichts oder widerlegen zuvor getroffene, hypothetische Annahmen, die Biographien und Leseinteressen betreffend, gar komplett. Ebenso interessant sind die Leerstellen einer solchen Sammlung, also die Bücher, von denen wir erwarten, dass die Besitzer:innen sie gelesen haben müssen, die aber nicht aufzufinden sind. Die in der Bibliothek enthaltenen Gegensätze, das Nebeneinander unterschiedlicher Interessenschwerpunkte und die Repräsentation verschiedener Bildungswelten machen diese kontinuierlich gewachsene Sammlung für mich so interessant. Sie zeigt aber auch, wie schwer es ist, die verschiedenen in Autor:innenbibliotheken enthaltenen Subtexte zu entschlüsseln. Mit meiner Masterarbeit möchte ich in diesem Jahr einen Teil zu dieser Arbeit beitragen und hoffe, diese schöne Sammlung so wieder etwas mehr in den Fokus gegenwärtiger Forschungen rücken zu können.

 


Emanuel Neumann ist Masterstudierender der Jüdischen Studien an der Universität Potsdam. In seiner Bachelorthesis beschäftigte sich Emanuel Neumann mit einer Korrespondenz aus der Marbacher Handschriftensammlung zwischen Karl Lieblich und seinem damaligen Verleger Eugen Diederichs. Zuletzt veröffentlichte Emanuel Neumann den Beitrag »Jüdischer Widerstand und jüdisches Heldentum in der Wolfenstein-Spielereihe« in Aurelia Brandenburg, Rudolf Thomas Inderst, Pascal Marc Wagner: »Eva, auf Wiedersehen!« Zur Geschichte, Verhandlung und Einordnung der Wolfenstein-Spielereihe. Verlag Werner Hülsbusch, Glückstadt, 2022.

[1] Boussion, Samuel: Juliette Pary. June 23, 2021, in: The Shalvi/Hyman Encyclopedia of Jewish Women. Zuletzt abgerufen am 20.02.2023 unter: https://jwa.org/encyclopedia/article/pary-juliette.

[2] Müller, Samuel: Kleine Bibel. Biblische Geschichte und Religionslehre, fortgeführt bis zum Ende des jüdischen Staates. Erweiterte Ausgabe des „Buch für unsere Kinder“. Stuttgart, J. B. Metzlerscher Verlag, 1903. Die Ausgabe enthält den Besitzvermerk „Clara und Olga Lieblich“, einen Stempel ihres Bruders Otto Lieblich samt zugehöriger Adresse in Strasbourg sowie verschiedenste (kindliche) Kritzeleien, Zeichnungen und Annotationen.

 

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