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„Marbach macht süchtig“

Frau Professor Weissberg, die Resonanz auf die Ausschreibung der Internationalen Sommerschule am DLA, die erstmals im Rahmen von MWW stattfindet, war enorm. Wie erklären Sie sich das?   

Mit dem Thema der Sommerschule: Weltliteratur. Dieses Thema hat viele angesprochen. Das hat mich schon fasziniert. Denn „Weltliteratur“ ist ja ein sehr deutscher Begriff, der natürlich weiter diskutiert wird, aber in einem anderen Kontext. Es hat sich auch schon am ersten Tag gezeigt, dass eigentlich jeder eine andere Idee davon hat, was Weltliteratur ist.

Inwiefern?

Nun, die Antworten und Interessen der Stipendiatinnen und Stipendiaten hier sind überaus unterschiedlich. Das hängt natürlich damit zusammen, aus welchen Ländern sie kommen und welchen Stellenwert ihre eigene Sprache und Literatur in der weltweiten Literaturwahrnehmung haben. In der Diskussion ging es um Kolonialismus und Postkolonialismus, um Marginalität, um die dominante Rolle des Englischen in der Literatur allgemein. Eine Frage aber tauchte immer wieder auf: Was macht das Deutsche Literaturarchiv mit Weltliteratur? Denn die Sommerschüler kommen ja zumeist aus der Germanistik. Sie haben sehr gut Deutsch gelernt und sind hierher gekommen, um die Manuskripte von Hesse und Hölderlin und anderen einzusehen. Und nun sind sie hier und fragen: Was heißt das denn – Weltliteratur?

Lässt sich diese Frage eindeutig beantworten?   

Nein. Die Antworten, die die Dozentinnen und Dozenten gegeben haben, waren daher auch sehr verschieden. Ich selbst bin nicht Germanistin, sondern Komparatistin. Für mich ist die Frage nach einer Nationalliteratur ein Problem, aber die Antwort heißt nicht unbedingt Weltliteratur. Mich interessiert, wie man über Literatur allgemein denken kann, ohne in einem nationalen Kontext zu bleiben, wie man ein Nationaldenken aufbrechen kann und was dabei die Aufgabe eines deutschen Literaturarchivs sein kann.

Was kann der Blick in ein Archiv hierzu beitragen? 

Es geht um die Frage nach Grenzen. Und diese Grenzen werden hier ja dauernd in Frage gestellt. Grenzen zwischen dem Osten und dem Westen Deutschlands, zwischen deutscher, schweizerischer und österreichischer Literatur, zwischen Autoren, die Beziehungen ins Ausland haben oder deren Werke in andere Sprachen übersetzt werden.  

Wie macht sich diese Art der Grenzüberschreitungen in der Archivarbeit bemerkbar?

Das mache ich am besten an einem Beispiel deutlich. Zurzeit forscht hier ein Wissenschaftler aus Polen über den polnischen Autor Zbigniew Herbert, dessen Manuskripte zum größten Teil nicht erhalten sind. Aber er hat eben auch mit Siegfried Unseld vom Suhrkamp Verlag korrespondiert und ihm Manuskripte geschickt. Und jetzt sind diese hier. Um polnische Literatur zu studieren, musste dieser Wissenschaftler also aus Polen nach Deutschland, nach Marbach kommen. Übrigens habe ich ihn den Sommerschülern vorgestellt, denn ich finde, dass sie diese Geschichte kennen müssen.

Warum?

Weil sie zeigt, dass Archive politisch sind, dass der Besitz von Material politisch ist. Es geht nicht nur darum, über die Einbürgerung von Autoren zu sprechen, sondern auch über die Einbürgerung von Material. Warum ist Kafka ein deutscher Autor, warum ist Celan ein deutscher Autor? Die Gruppe 47 hat Celan beispielsweise  ausgegrenzt.  Und wie sprechen wir über Exil-Literatur im Kontext eines Begriffes wie Weltliteratur? All dies sind Fragen, die gestellt werden müssen, und das sind politische Fragen. Wir müssen aufpassen, dass der Begriff der Weltliteratur nicht entpolitisiert wird. Es geht um Machtverhältnisse.

In welchem Sinne?

Im Sinne von: Wer besitzt welche Manuskripte? Was kann ein Archiv sich leisten? Ein Archiv kann das Problem der Weltliteratur verdeutlichen oder, wie es in den 70er Jahren so schön hieß, hinterfragen.

Ist das auch Ihr Ansatz?

Ja. Es ist aber nicht unbedingt der Ansatz der anderen Dozenten. Das ist auch gut so. Wir geben hier ja keine Wahrheiten kund, sondern regen Diskussionen an. Das macht es ja so spannend. Daher habe ich den Stipendiaten auch gleich zu Anfang prophezeit, dass sie in den beiden Wochen der Sommerschule kaum zum Schlafen kommen werden. 

Sie selbst wahrscheinlich auch nicht. Denn Sie und andere Dozenten unterrichten nicht nur, sondern bieten im  Rahmen der Sommerschule auch eine individuelle Dissertationsberatung an. 

Ja, diese Beratung ist fast der wichtigste Teil der Sommerschule. Denn die Stipendiatinnen und Stipendiaten sind ja als Doktoranden hier. Und in sehr vielen Fällen sind die Doktoranden, die die Sommerschule verlassen, nicht mehr die Doktoranden, als die sie hierher gekommen sind.

Wie meinen Sie das? 

Nun, viele entdecken hier Material, das sie in ihre Arbeit integrieren möchten oder das ihre Arbeit infrage stellt. Und sie bekommen durch die Seminare oder Unterhaltungen mit den Stipendiaten sehr viele Anregungen. 

Es fällt auf, dass sich viele Dissertationsthemen der Sommerschüler mit zeitgenössischer Literatur befassen.

Diese Themen sind vor allem bei Studierenden beliebt, die von Universitäten kommen, die keine gut ausgestatteten Bibliotheken haben. Sehr viele der afrikanischen Studenten wählen sich ein Thema zur Gegenwartsliteratur oder zu den Medien, weil sie zumindest an die Primärliteratur leichter herankommen. Manche dieser Studierenden interessieren sich aber auch für Literatur, die für sie schwer erhältlich ist. Wenn sie dann hierher kommen, öffnet sich ihnen eine Welt. Viele entscheiden sich anschließend, über den DAAD oder andere Stipendien zumindest für einen Teil der Dissertation nach Deutschland zu kommen.

Eine ganz schöne Marathonaufgabe, in Einzelgesprächen zwanzig verschiedene Dissertationsthemen zu besprechen.

Das stimmt. Zum einen habe ich aber eine lange Berufserfahrung. Zum anderen kenne ich durch meine vielen Gastprofessuren und Forschungsaufenthalte die Bibliotheken und Archive in Deutschland ganz gut und kann jemandem zum Beispiel empfehlen, die Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel zu besuchen, weil er dort für sein Thema mehr Material finden würde als in Marbach. Und zu einer solchen Reise kann man ja jetzt viel leichter raten.

Spielen Sie darauf an, dass die Internationale Sommerschule seit diesem Jahr im Rahmen von MWW und damit jährlich abwechselnd in Marbach, Weimar und Wolfenbüttel stattfindet?

(lacht) Ja, da muss man kein schlechtes Gewissen mehr haben, wenn man jemandem empfiehlt, statt in Marbach in Wolfenbüttel zu forschen.

Worin sehen Sie den Vorteil, dass die Sommerschule jetzt Teil von MWW ist?  

Ich fände es toll, wenn ein Stipendiat die Möglichkeit hätte, nacheinander alle drei Sommerschulen in Marbach, Weimar und Wolfenbüttel zu besuchen. Denn einige haben Themen, die sich anbieten, in einem der anderen Archive weitergeführt zu werden. Es wäre eine großartige Möglichkeit, die Einzigartigkeit der Archive kennen zu lernen. Es ist ja oft so, dass Wissenschaftler, die in Archiven geschult wurden, der Archivforschung eng verbunden bleiben – egal ob sie zu einem Thema der Frühen Neuzeit oder des 20. Jahrhunderts forschen.

Allerdings ist das Programm der Sommerschule sehr anspruchsvoll und zeitintensiv, da bleibt gar nicht so viel Zeit für die Archivarbeit.

Ja, die Archivzeit ist recht knapp bemessen. Aber zum Glück gibt es in Marbach ja die Möglichkeit, ein  Forschungsstipendium zu beantragen. Die Stipendiatinnen und Stipendiaten der Sommerschule haben also gute Chancen, wieder hierher zu kommen. Von meinen eigenen Studenten, die ich in den vergangenen Jahren zur Sommerschule mitgebracht habe, weiß ich, dass sie geradezu süchtig werden nach Marbach. Die sind sehr oft hier.

Und treffen Sie dann hier?

(lacht) Oh ja. Die werden dann immer ein bisschen nervös, wenn sie mich hier sitzen sehen. Das hat ja auch eine gewisse Tragik: Die Doktormutter, die nie weggeht, die immer da ist. Wie auch immer: Viele von ihnen haben ein sehr, sehr enges Verhältnis zu Marbach. Die Webseite der amerikanischen Freunde des DLA wurde von einem ehemaligen Doktoranden von mir eingerichtet, der vor vielen Jahren als Sommerschüler ans DLA kam und danach immer wieder hier war. Inzwischen ist er Professor in Michigan. Viele Sommerschüler werden ja Professoren. Dem Archiv aber bleiben sie verbunden – und das macht mich stolz.

Liliane Weissberg ist Christopher H. Browne Distinguished Professor in Arts and Sciences und Professorin für deutsche und vergleichende Literaturwissenschaft an der University of Pennsylvania, Philadelphia. In Marbach u. a. erschienen: Über Haschisch und Kabbalah. Gershom Scholem, Siegfried Unseld und das Werk von Walter Benjamin. marbachermagazin 140 (2012).

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